Resilienz in Lieferketten? Einige Fortschritte und weiterhin Luft nach oben

Resilienz – das neue Zauberwort in gefühlt jedem Lebensbereich. Alles muss resilient sein: Wir sollten resilient sein, die Natur ist resilient, vermutlich ist die Glühbirne über dem Küchentisch auch resilient – und natürlich sollten es Lieferketten auch sein. Ob sie aber wirklich so resilient sind, wie man sich das wünscht? Und welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf das Resilienzniveau von Supply Chains ausgeübt?

Wir wollten es wissen: Wir – das sind der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME) und ich. Gemeinsam haben wir im Frühjahr 2024 die „BME-Logistikstudie 2024“ aufgesetzt, die sich mit Risikomanagement und Resilienz in Supply Chains beschäftigen sollte. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie, die exklusiv auf dem 59. BME-Symposium in Berlin präsentiert wurde, stelle ich Ihnen in diesem Blogbeitrag vor. (Zur Info: Hier die offizielle Pressemitteilung des BME zur BME-Logistikstudie 2024: https://www.bme.de/news/bme-logistikstudie-2024:-lieferketten-noch-nicht-resilient-genug.)

Bei der Ausgestaltung und Professionalisierung des SCRM ist noch Luft nach oben – vor allem bei kleineren Unternehmen

Ein wichtiger Aspekt im Rahmen unserer Untersuchung war die Frage, wie reif das Supply Chain Risk Management (SCRM) bei den teilnehmenden Unternehmen ist. Dabei haben wir ein Reifegrafmodell genutzt, das vier Erfolgsfaktoren für Risikomanagement verwendet: Die Risikokultur, die Risikoorganisation, den Risikoprozess und die eingesetzten Methoden. Das Modell unterscheidet fünf Reifegradstufen: Die erste Stufe bildet den niedrigsten Reifegrad ab und die fünfte Stufe den höchsten. In der aktuellen Umfrage gab es kein Unternehmen, das insgesamt den höchsten Reifegrad für sein SCRM reklamieren kann. Etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen ist ordentlich aufgestellt; diese Unternehmen weisen einen Reifegrad auf der dritten oder vierten Stufe auf. Knapp die Hälfte jedoch hat deutlich Luft nach oben, bei ihnen steckt das SCRM noch in den Kinderschuhen, das heißt: bewegt sich auf den ersten beiden Stufen.

Abbildung 1: Reifegrad des SCRM nach Unternehmensgröße (Quelle: BME-Logistikstudie 2024: Risikomanagement und Resilienz in Supply Chains)

Wenn man die Unternehmensgröße berücksichtigt, sind erhebliche Unterschiede auszumachen, wie Abbildung 1 verdeutlicht. Große Unternehmen (in der Umfrage Unternehmen mit einem Jahresumsatz von > 250 Millionen EUR) weisen einen deutlich höheren Reifegrad auf als kleinere Unternehmen. Der durchschnittliche Reifegrad von großen Unternehmen beträgt 3,0, während sowohl die kleinen Unternehmen (bis 50 Mio. EUR Jahresumsatz) und die mittleren Unternehmen (bis 250 Mio. EUR Jahresumsatz) nur auf einen durchschnittlichen Reifegrad von jeweils 2,2 kommen. Große Unternehmen sind damit deutlich professioneller aufgestellt als kleinere Unternehmen. Diese Beobachtung wird nicht durch einen einzigen der vier Erfolgsfaktoren determiniert – im Gegenteil: ein derartiges Bild zeigt sich bei allen vier Erfolgsfaktoren (Kultur, Organisation, Prozess, Methoden). Das Ergebnis kann auch überraschen, weil es doch Erfolgsfaktoren gibt, bei denen man kleineren Unternehmen aufgrund ihrer Unternehmensgröße zutraut, leichter ein höheres Ergebnis zu erreichen, beispielsweise bei der Risikokultur. Das scheint jedoch – zumindest aufgrund der erfassten Daten – nicht der Fall zu sein.

Resilienz ist inzwischen bei den Unternehmen als wichtiges Thema angekommen

Wie hat sich das Thema Resilienz entwickelt? Dazu möchte ich zwei Ergebnisse anführen. Auf der einen Seite interessierte uns, welchen Stellenwert das Thema Resilienz der Lieferketten vor Beginn der Corona-Pandemie im Unternehmen hatte und inwieweit sich diese Bedeutung nach wesentlichen Störereignissen wie der Corona-Pandemie, aber auch der Blockade im Suezkanal (2021) und dem Beginn des Krieges in der Ukraine (2022) möglicherweise gewandelt hat.

Abbildung 2: Entwicklung der Bedeutung von Resilienz in Lieferketten (Quelle: BME-Logistikstudie 2024: Risikomanagement und Resilienz in Supply Chains)

Die Antworten der Unternehmen sprechen eine eindeutige Sprache, wobei berücksichtigt werden muss, dass die Angaben zum Stellenwert der Resilienz vor der Pandemie auch im Rahmen der aktuellen Umfrage erhoben und damit ex post getroffen wurden (siehe dazu Abbildung 2):

  • Während vor Beginn der Pandemie nur 9 % der Unternehmen dem Thema Resilienz eine hohe oder sehr hohe Priorität zuwiesen, stieg dieser Anteil zum Zeitpunkt der Befragung im 2. Quartal 2024 auf 45 %. Beinahe die Hälfte der Unternehmen sehen Resilienz in der Lieferkette inzwischen als absolut wichtiges Thema an.
  • Dementsprechend ging auch der Anteil der Unternehmen deutlich zurück, die Resilienz nur eine geringe oder gar keine Bedeutung zumessen, und zwar von 60 % vor Beginn der Corona-Pandemie auf 25 % im Frühjahr/Sommer 2024.

Die Störereignisse der vergangenen Jahre haben zu einer deutlichen Steigerung der wahrgenommenen Resilienz geführt

Damit verbunden ist ein deutlicher Anstieg der wahrgenommenen Resilienz der eigenen Inbound- und Outbound-Lieferketten. „Wahrgenommene Resilienz“ bedeutet die Einschätzung der Resilienz durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Eine konkrete Messung „der Resilienz“ war nicht möglich, weswegen die wahrgenommene Resilienz ein aus unserer Sicht guter Indikator war.

Abbildung 3: Entwicklung der Resilienz von Inbound-Lieferketten (Quelle: BME-Logistikstudie 2024: Risikomanagement und Resilienz in Supply Chains)

Auch hier sind die Ergebnisse eindeutig, wie sich am Beispiel der Inbound-Supply-Chains in Abbildung 3 zeigt, also derjenigen Lieferketten, die von den Lieferanten (und den Lieferanten der Lieferanten usw.) ins eigene Unternehmen führen:

  • Während weit über 40 % der Teilnehmenden ihre Inbound-Lieferketten vor der Pandemie als wenig oder gar nicht resilient ansahen, hat sich dieser Anteil mehr als halbiert: nur noch 17 % der Unternehmen sind dieser Meinung.
  • Auf der anderen Seite sahen nur 22 % der Unternehmen ihre Lieferketten vor der Pandemie als resilient oder sehr resilient an. Dieser Anteil hat sich verdoppelt. Inzwischen sehen also 44 % der Teilnehmenden ihre Inbound-Supply-Chains als resilient an. Auch hier gibt es Unterschiede aufgrund der Unternehmensgröße, die aber weniger gravierend sind, als dies beim Reifegrad der Fall war.

Einige Fortschritte in den vergangenen Jahren erkennbar

Während die Ergebnisse zum Reifegrad doch noch viel Luft nach oben aufzeigen, insbesondere bei kleineren Unternehmen, zeigen die Ergebnisse zur Bedeutung der Resilienz, aber auch zur wahrgenommenen Resilienz positive Entwicklungen auf. Die Bedeutung des Themas Resilienz ist deutlich gestiegen, und die Unternehmen haben – vermutlich zwangsläufig und aus der Not geboren – erheblich dazugelernt und einiges getan, damit ihre Lieferketten externe Störereignisse besser verkraften können als bisher.

Alle Ergebnisse der Umfrage sind in der kürzlich erschienenen „BME-Logistikstudie 2024: Risikomanagement und Resilienz in Supply Chains“ ausführlich dargestellt und dokumentiert. Die BME-Logistikstudie steht auf der Internet-Seite des BME als kostenloser Download zur Verfügung: https://www.bme.de/fachinformationen/bme-logistikstudie-2024/.

Selbstverständlich freuen sich der BME und ich über Feedback zur Studie.